01.01.2013

Das Haiku-Universum

Eine Rezension von Dietmar Tauchner


(Erstveröffentlichung in SOMMERGRAS, Nr. 89)


„The Haiku Universe for the 21st Century, Japanese/English – Japanese Haiku 2008“ von der Gendai Haiku Kyokai, 2008


Das Haiku ist ein Literaturgenre, das auf eine lange Tradition zurückblickt. Ein Universum voller Sterne, die immer noch leuchten, obwohl sie längst erloschen sind. Man denkt an Bashô, Buson oder Issa, wie diese Fixsterne heißen.

Manche Lichter erst kürzlich erloschener Sterne oder noch aktiv brennender sind noch nicht im deutschsprachigen Milchstraßensystem angelangt. Die Rede ist von den Lichtern des modernen japanischen Haiku, Gendai-Haiku genannt.

Mit dem Reformator des Haikai, Masaoka Shiki (1867-1902), beginnt das moderne Haiku mehr oder weniger auf den Plan zu treten. Shikis Erben sind schon weniger bekannt, und der Bekanntheitsgrad ihrer Nachfolger verringert sich zusehends. Die Gründe dafür sind bestimmt darin zu suchen, dass es erstens lange Zeit wenige Übersetzungen aus dem Japanischen ins Deutsche gab und immer noch gibt, und zweitens auch in dem Umstand, dass das Haiku im deutschsprachigen Raum einem nostalgischen Reflex zum Opfer fiel, nämlich das Haiku als naturalistisches Gedicht mit kleinen romantischen Referenzen zu betrachten.

(Literatur, die aber nicht radikal im Jetzt verwurzelt ist, kann niemals in die Zukunft gelangen. Die Frage danach, welche deutschsprachigen Haiku-Dichter in 100 Jahren noch gelesen werden, will ich nicht einmal rhetorisch stellen, weil diese Frage zu sehr von abenteuerlichen Spekulationen und Phantasmagorien verzerrt würde. Vielleicht mag der eine oder andere dennoch darüber nachdenken ...)

Aber eigentlich ist das Thema dieses Textes keine Polemik über das deutschsprachige Haiku, sondern eine Rezension mit kurzer, sehr kurzer Einführung in das japanische Gegenwarts-Haiku.

2008 veröffentlichte die Gendai Haiku Kyokai (Zeitgenössische Haiku-Vereinigung) den Band: "The Haiku Universe for the 21st Century, Japanese/English – Japanese Haiku 2008". In diesem 216 Seiten starken Band befindet sich neben einem Vorwort von Uda Kiyoko  und Tôta Kaneko und einem Nachwort von Akira Matsuzawa  auch ein sehr anschaulicher Abriss der Geschichte des japanischen Gegenwarts-Haiku von Toshio Kimura, auf den ich im Folgenden eingehen möchte, um danach eine Auswahl der darin enthaltenen Haiku vorzustellen.

Ziel wird es sein, einige der wichtigsten Vertreter des Gendai-Haiku und die Strömungen, die sie begründet oder beeinflusst haben, aufzuzeigen. In "20th-Century Japanese Haiku – A Brief History of Modern Haiku" schreibt Toshi Kimura: "About 200 years had passed since the days of Bashô, the great haikai poet of the Edo period, and haikai had become unexciting literature, full of trite expressions and with little artistic flavor. Seeing that haikai was in stagnant condition as a literary art, Shiki Masaoka insisted that haikai must be modernized [...] he  rejected the old style haikai, calling tsukinami (commonplace)."

Shiki ging es darum, das Haikai als kreative und eigenständige literarische Form zu etablieren, weshalb er das Haikai zum Haiku werden ließ. Shiki gründete 1897 das folgenreiche Haiku-Magazin „Hototogisu“, dem zwei Hauptströme, getragen von zwei der erfolgreichsten Schüler der Nippon-ha (Japanische Schule) Shikis, entsprangen: das Shin-keikô Haiku (neuer Trend) von Hegikotô Kawahigashi und das Kyakkan Shasei Haiku (objektive Skizze), woraus das spätere "kachô fûei"-Prinzip (Schönheit der Natur) resultierte, von Kyoshi Takahama.

Hegikotô Kawahigashi gründete mit Seisenui Ogiwara das Haiku-Magazin "Sôun" und den darin forcierten Jiyûritsu Haiku-Stil, der sich dadurch kennzeichnen lässt, dass er das Haiku von traditionellen Themen und Formen loslösen und weiter entwickeln sollte. Taneda Sântoka war einer der wichtigsten Vertreter. Kyoshi Takahama hingegen versuchte in seinen Versen, die traditionellen Werte des Haikai, allen voran das Kigo und den damit assoziierten Naturbezug, zu konservieren.

Mitte der 1920er Jahre entwuchsen dieser Strömung die "4 großen S" des japanischen Gendai Haiku: Shûôshi Mizuhara, Suju Takano, Seiho Awano und Seishi Yamaguchi.

In den 1930er Jahren entwickelte sich das sogenannte Shinkô Haiku (neuer Stil), das dem Bedürfnis von Shûôshi Mizuhara nach einer stärkeren subjektiven Note entsprang. Der europäische Individualismus und der Surrealismus nahmen Einfluss auf die Ästhetik des Shinkô Haiku. Das Kigo-Haiku wurde durch das Muki-Haiku (jahreszeitenunabhängiges Haiku) ersetzt.

Das Shinkô Haiku verzweigte sich in weitere Stile, wie zum Beispiel das proletarische Haiku, die das Thema der Arbeiter und der Arbeit reflektierten, oder das Senka-sôbô Haiku (imaginäres Schlachtfeld-Haiku), das während des Chinesisch-Japanischen Krieges aufflammte.

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs gehört auch im Gendai-Haiku zu einer der düstersten Perioden, zumal traditionalistisch orientierte Haijin erfolgreich dafür sorgten, dass innovativ orientierte Haijin als antijapanisch und damit als Staatsfeinde inhaftiert werden konnten (Haiku Jiken).

Nach dem Weltkrieg etablierte Yamaguchi das sogenannte Kongen Haiku (essenzielles Haiku), bevor die Jahre 1950 - 1970 die Avantgarde einläuteten. Soziale Themen und Einstellungen gewannen an Bedeutung. Tôhta Kaneko vertrat die Position des Zôkei-ron, die Haltung, dass das Haiku im Individuum entstehen und dann als sozialer Impuls weiter wirken solle. Das Avantgarde-Haiku wurde zumeist in klassische Formen gebracht, griff auch wieder auf das Kigo zurück, sah all das aber nicht als verbindlich an. Man hatte sich anscheinend mit der Tradition ausgesöhnt, weil das Neue nun schon ausreichend etabliert schien.

1947 wurde die Gendai Haiku Kyôkai gegründet, die fortan traditionelle Haiku genauso akzeptierte wie jahreszeitenungebundene und solche der völlig freien Form.

Nach 1970 geriet das Gendai-Haiku in eine Art Sinnkrise; der große ökonomische Aufschwung ließ dem Suchen neuer Themen kaum Raum, so rotierte das Haiku um sich selbst. Vielleicht aber aufgrund der erreichten Selbstverständlichkeit wurde das Haiku zusehends populärer. Nicht nur in Japan, sondern auch außerhalb, sodass 1989 die Kokusai Haiku Kyôrû, die Haiku International Association und später, im Jahr 2000, die Sekai Haiku Kyôkai, die World Haiku Association gegründet wurden. Verbände, die die Entwicklung und Verbreitung des sogenannten Welt-Haiku zum Ziel hatten und haben.

Im letzten Absatz des historischen Abrisses "From the 20th Century to the Future – Conclusion" fasst Toshio Kimura die gegenwärtige Situation des Gendai Haiku folgendermaßen zusammen:

"The twentieth century was a time to search for an answer to the question of how haiku, the resurrected traditional poetry, could find its reason for existing as a modern literate form. [...] In such a tense atmosphere of rivalry between reformists and conservatives, haiku has continued to grow as a style of modern short poetry with a set form. [...] We are now at a point where a positive future course is difficult to see. This may be a time similar to the ‘night’ before the haiku innovation of one hundred years ago. Where is the haiku heading in the 21st century?"

Die Sammlung moderner japanischer Haiku ist in vier Gruppen aufgeteilt.

1. Pioneers (Pioniere)

2. Promotors (Vorantreiber)

3. Challengers (Herausforderer)

4. Kaleidoscope of Contemporary Japanese Haiku (Kaleidoskop zeitgenössischer japanischer Haiku)

Allen vier Kategorien sind vier Haiku entnommen und hier vorgestellt*.




1. Pioniere




all day long
without saying a word –
the shape of a butterfly


Hôsai Ozaki


den ganzen Tag
ohne ein Wort zu sagen –
die Gestalt eines Schmetterlings





Close to Heaven
men who plow the mountain fields:
deep in Yoshino


Seishi Yamaguchi


dem Himmel nahe
Männer die das Bergfeld pflügen:
tief in Yoshino





Among the lotus
there is a flapping of wings
on a moonlit night


Shûôshi Mizuhara


unter dem Lotus
das Flattern von Flügeln
in einer mondhellen Nacht





autumn sunset –
bones of a gigantic fish
drawn into the sea


Sanki Saitô


Herbstsonnenuntergang –
Knochen eines riesigen Fisches
ins Meer gezogen





2. Vorantreiber




Reaching the other world
I will still comb my hair –
the loneliness


Sonoko Nakamura


die andere Welt erreichend
werde ich immer noch mein Haar kämmen –
die Einsamkeit





A wolf
with a single firefly
clinging to it


Tôta Kaneko


Ein Wolf
mit einem Leuchtkäfer
hautnah 





Everything is green ...
a handsome priest
is lighted up


Tenkô Kawasaki


Alles ist grün ...
ein gutaussehender Priester
ist erleuchtet





Eating sweetfish –
quietly
I become heavier


Kan'chi Abe


Süßfisch essend –
in aller Ruhe
schwerer





3. Herausforderer




Climbing the stairs
one by one people
become shadows


Kunihiro Buma


Stiegen steigend
eine nach der anderen
werden Menschen zu Schatten





May Storm
if I become silent
I'll vanish


Bin Akio


Maisturm
wenn ich verstumme
verschwinde ich





Universal gravitation –
in the potatoes
there are hollow spaces


Maya Okuzaka


Universelle Schwerkraft
in den Kartoffeln
gibt es Hohlräume





I wash my face
with eyeballs in my hands:
A-bomb remembrance


Takatoshi Gotô


Ich wasche mein Gesicht
Augäpfel in den Händen
Atombombenerinnerung





4. Kaleidoskop




Painted his wife,
painted an evening primrose ...
killed in the war


Chisei Tamura


malte seine Frau,
malte eine Primel am Abend ...
tötete im Krieg





Mother
sitting on a swing
has many profiles


Hiroshi Maeda


Mutter
sitzt auf einer Schaukel
mit vielen Profilen





Dandelions...
everyone has the face
of a stranger


Eichi Kanamata


Löwenzahn ...
jeder hat das Gesicht
eines Fremden





Yellow narcissus –
your words sound
like steel


Senshi Suzuki


gelbe Narzisse –
deine Worte klingen
wie Stahl



* Deutsche Übersetzung: Dietmar Tauchner