01.04.2015

Von Wirklichkeit und Wirkung







Mnemosyne*―
das laute Zwitschern
einer Datenwolke.

*griechisch Μνημοσύνη; von μνήμη mnēmē, „Gedächtnis“





Beate Conrad










Hyazinthenblau
nicht mehr und
nicht weniger





Eva Limbach











Guantanamo
An meinen Händen der Saft
einer Orange










(mit) unter
                 bewußt (los)
        sein
 
(s)low emotion
of
(t)error
 




Hans-Jürgen Göhrung










der grüne Fluss
wir nehmen Abschied
vom ausgetretenen Pfad











Meteoritenglut
der Einbruch
der Lautlosigkeit











mit Silberstift gezogen
die Zeichen
in ihrem Gesicht





Helga Stania










 
Inflatonfeld mein gestohlenes Leben











 
Zitroneneis eine sich ausdehnende Kugel mit mir als Mittelpunkt





Gabi Hartmann











Fibonaccis Tempel
zwischen warmen Ziegelsteinen
ein Hauch ∞










 

Die Blaue Wüste
in meinen Träumen pflanze ich dort
Ölbäume 









443 Hz
die Magie der Zeitlichkeit
im einfallenden Licht





Ramona Linke
   











schwarze Stunden
ich buchstabiere Worte
aus Licht





Angelika Holweger





Von Wirklichkeit und Wirkung

Dietmar Tauchner, einer der beiden Editoren dieses Blogs, hat gerade die Arbeiten an seinem fünften Buch fertig gestellt. Sein Titel "invisible tracks/unsichtbare spuren". In diesem Werk findet sich eine Ein- oder Hinleitung von Dietrich Krusche, dem Nestor der deutschsprachigen Haiku-Szene. Beide führten auf dem Weg zu dieser 13-seitigen Analyse der Tauchnerschen Texte einen Dialog, den Volker Friebel in der aktuellen Ausgabe von Haiku heute dokumentiert hat

Folgende Thesen
-- Tauchner recte, Krusche kursiv -- habe ich aus diesem Mailwechsel gezogen. Sie sind für mich wichtige Hinweise, dass das Haiku eben nicht heute am Scheideweg steht, sondern schon immer auf Scheidewegen gegangen ist und dies auch weiter tun wird:

  • Was das Haiku betrifft, ist es mir wichtig festzuhalten, dass es kein „orthodoxes Haiku“ gibt, wie von manchen vermeintlichen Gralshütern propangiert, sondern allein ein vitales Genre, das vor allem durch seine epochale Ästhetik, die Poetik von Individuen und deren Schulen geprägt worden ist und wird und offen für neue Themen und Formen und Reformen ist. Das Haiku ist kein hermetisch abgeriegeltes shintoistisches Naturgedicht, sondern ein kurzes Gedicht, das die Welt immer wieder mit neuen Augen betrachtet und dabei moderne, natur- und geisteswissenschaftliche Perspektiven nicht außer acht lässt.  

 
Als ich meine Haiku-Übersetzungen machte, war mir klar, dass das Haiku außerhalb Japans nicht dasselbe sein kann wie innerhalb seiner Ursprungskultur. Dort spielt es, zusammen mit den anderen Zen-Künsten wie Bogenschießen, Stockfechten, Ikebana usf. eine – wenn auch sich abschwächende – Rolle im Alltag. Aus dieser Tradition, die auf das 17. Jahrhundert zurückgeht, ergeben sich seine „japanischen Regeln“. Aber wir haben keine Silbenschrift, das Silbenzählen macht bei uns keinen Sinn, und das in Japan geforderte „Jahreszeitenwort“ wirkt nicht in vergleichbarer Weise – uns fehlt die entsprechende ‚Jahreszeitenkultur’.

Ich stimme Ihnen also völlig zu, dass es keinen „Gral“ gibt, den es zu bewahren gilt. 



  • Tatsächlich verstehe ich das Haiku als „universales“ Format, zumal das Haiku spätestens mit Bashôs Shômon-Schule so „offen“ war, dass neue Ansätze fast schon programmatisch wurden. 
  • Einerlei, ob man das traditionelle oder das moderne Haiku hernimmt, sie unterteilen sich in viele unterschiedliche Strömungen und Poetiken, weshalb ich glaube, dass seit einiger Zeit von einer dritten großen Strömung gesprochen werden kann, nämlich dem „internationalen“ oder „globalen“ Haiku. Kulturspezifische und globale Themen bilden Hand in Hand eine neue Facette dessen, was Haiku ist oder sein kann. Das Haiku ist nicht nur Bild der Tatsachen (was es genau genommen nie war), es ist auch zu einem Bild des Möglichen und der Vorstellung geworden. Was Haiku ist, mag mit Bashô mehr dazu geworden sein, was Haiku sein kann.
  • Warum ich ganz persönlich am Begriff Haiku festhalte: Weil ich die Faszination in den eigenen Texten verankern möchte, die ich empfand, als ich die ersten klassischen Haiku – übrigens in Ihrer Übersetzung! – las. Andeutung, Offenheit, Geheimnis, Wahrnehmung der Welt, wie sie sich darstellt, Elemente einer elementaren Dichtung, die somit eine grundlegende ist, ja sogar eine Art „Untergrunddichtung“, weil sie dem Elementaren Raum gibt und damit auf den Grund geht und Wurzeln freilegt. 

Wir sind uns einig, dass es um keinen „Gral“ des wahren Haiku geht, den es zu bewahren gilt. Das „japanische“ Haiku, so wie es entstanden ist und sich binnen-japanisch entwickelt hat, gibt es nur dort.  

Für einen deutschen/europäischen/‚abendländischen’ Autor von Haiku – in seinem Verhältnis zu seinem ‚globalen’ Publikum – gibt es eine solche Selbstverständlichkeit nicht. Man kann so tun, als ob. Manche Autoren deutschsprachiger Haiku haben versucht, dieses Defizit dadurch zu kompensieren, dass sie sich auf ein „allgemeinmenschliches“ Naturgefühl zurückfallen ließen. Jeder fallende Tautropfen, jeder auffliegende Schmetterling, jede sich öffnende Blüte reichte aus, das Pulsieren des Universums darin wiederzufinden – die Gefahr, einem „Jargon der Eigentlichkeit“ zu verfallen. 

  • Was traditionell die Natur für das Haiku bedeutete, wird zunehmend durch städtische Kulturräume ersetzt oder um diese erweitert. U-Bahnen zum Beispiel sind ein so allgemein assoziierter Raum, den Leser weltweit leichtens betreten können. Natur und Kultur verschmelzen.
  • Nach dem zweiten Weltkrieg traten viele neue Richtungen und Schulen auf, die sich vor allem der starken Implikation des Menschlichen und dessen soziale Interaktionen verschrieben, also nicht nur der Observation der Natur.
  • Was verbindet nun Wahrnehmung und Wissen? Die Wirklichkeit, und die ist laut Thomas Mann: das, was wirkt. Wirklichkeit und Wirkung sind die Schlüsselbegriffe der modernen Haikudichtung.

Ralf Bröker